Schokolade: Eine wahre geschichte

Schlussfazit

Dem Buch kann zwar keine schuldhafte Absicht unterstellt werden. Trotzdem ist diese Schokoladengeschichte vergessen gegangen. Dadurch verlor Bern ein Kulturgut von Weltruf. Eine Würdigung ist somit unvermeidlich.
CHOCOBERN'S

Erkenntnis

Es muss nochmals darauf hingewiesen werden, dass R. Lindt nichts mit der A & W Lindt zu tun hatte. Ebenso gab es keine Verurteilung von ihm. Die Affäre um die zweite Schokoladenfabrik in der Matte sollte deshalb isoliert betrachtet werden. Sein Bruder wurde wegen Übertretung einer Konkurrenzklausel im Arbeitsvertrag zur Zahlung eines Schadenersatzes verurteilt. Später musste er gemeinsam mit seinem Cousin wegen eines Verstosses gegen das Lauterkeitsprinzip einen weiteren Schadenersatz zahlen. In beiden Prozessen war aber keine Staatsanwaltschaft involviert.

Schon zu Beginn haben wir festgestellt, dass man sich kaum mehr an den wichtigsten Schokoladenpionier der Schweiz erinnert. Wie konnte es passieren, dass diese Genussgeschichte selbst in der Geburtsstadt von R. Lindt in Vergessenheit geriet? In der Ausgangslage dieser Gegendarstellung wurde diese Frage aufgeworfen. Es stand ausserdem fest, dass seine bekannteste Biografie in «Patriarchen» zu finden ist und seine Person in diesem Buch stark abgewertet wird. Die «Zufallskategorie» attestiert ihm ungenügendes Fachwissen. Dafür soll seine Freizeitorientierung umso ausgeprägter gewesen sein – wenn man der «Wochenendkategorie» Glauben schenkt. Ferner war auch schon bekannt, dass es einen kostspieligen Streit gab und vor allem die Verliererseite durch Todesfälle geschwächt war. Gemäss dem Paradebeispiel soll die Schuld an der Trennung auf der Berner Seite gelegen haben.

Bei der Suche nach Antworten wurde «Patriarchen» genauer unter die Lupe genommen. Dabei stellte sich heraus, dass ein Teil der Quellentexte von den Widersachern von R. Lindt stammt. Die negative Darstellung seiner Person kann somit auf fehlende Objektivität zurückgeführt werden. Im Rahmen der inhaltlichen Prüfung wurden verschiedene Abwertungen den realen Gegebenheiten gegenübergestellt. Auf diese Weise konnten mehrere Unwahrheiten identifiziert werden. Das Buch basiert somit nicht nur auf subjektiven Texten, sondern enthält auch Falschdarstellungen. Folge dessen ist es für eine Biografie nicht seriös genug.
Für die Konfliktanalyse musste zuerst die fehlende Objektivität wettgemacht werden. Hierfür wurde eine Situationsanalyse gemacht. Auf diesem Weg konnte sich ein Interessenkonflikt zwischen den beiden Seiten herauskristallisieren. Um mit der neuen Schokoladenfabrik in Kilchberg mithalten zu können, hätte die technisch veraltete Schokoladenmühle in der Matte dringend erneuert werden müssen. Da die Baukosten am Zürichsee zuvor jedoch überbordet waren, könnte das Geld für die Erneuerungsinvestitionen gefehlt haben. Der Berner Investitionsbedarf hätte in diesem Fall im Widerspruch zu den Sparzielen in Zürich gestanden. Der Privatkauf des Gewerbehauses im Jahr 1902 stützt diese Vermutung. Betriebswirtschaftlich wäre eine Schliessung des Berner Standortes sogar sinnvoll gewesen. Einerseits ist der Betrieb an zwei Standorten kostenintensiver. Andererseits hätte die Auslastung der neuen Fabrik in Kilchberg mit Berner Aufträgen erhöht werden können.

Gemäss dem Urteil aus dem Jahr 1909 gab es im Kaufvertrag von 1899 eine Standortklausel. Demnach hätten die Käufer aus Zürich eine Standortregelung in den Statuten verankern müssen. Das Obergericht stellt im Urteil aber auch fest, dass diese Berner Verkaufsbedingung nicht umgesetzt wurde. Im selben Urteil wird zudem ein Entscheid des Verwaltungsrates aus dem Jahr 1905 erwähnt, demzufolge das Deutschlandgeschäft nur noch aus Kilchberg hätte bedient werden sollen. Durch diesen Beschluss wäre der Berner Umsatz noch geringer geworden. Ob dieser Entscheid mit der Standortklausel vereinbar war, bleibt fraglich. Fest steht jedoch, dass daraufhin die Rücktritte von R. und A. Lindt folgten. Aus Berner Sicht war dieser Verwaltungsratsentscheid für den Bruch zwischen den beiden Seiten verantwortlich. Dank der Hinweise im Urteil kann eindeutig aufgezeigt werden, dass den vertraglichen Verpflichtungen auf beiden Seiten nur ungenügend nachgekommen wurde. Die einseitige Schuldzuweisung in «Patriarchen» ist damit widerlegt.

Im Buch sind zwei grobe Fehler vorhanden. Zum einen wird behauptet, dass R. Lindt verurteilt wurde. Zum anderen wird der Todesfall von A. Lindt chronologisch falsch eingeordnet. Auch die Quellenprüfung fand keine Erklärung für diese fehlerhafte Darstellung. Fest steht aber, dass man sich mit einer verurteilten Person weniger stark identifizieren kann. Selbst ein verurteilter Lokalheld verliert den Rückhalt in der Bevölkerung. Damit ist zumindest eine Erklärung gefunden, warum die bedeutende Geschichte über R. Lindt sogar in Bern vergessen gehen konnte. In «Patriarchen» wird der Tod von A. Lindt ans Ende der Handlung gesetzt. Das Ereignis wird dadurch zur Randnotiz. Auf diese Weise lässt das Narrativ eine ironische Interpretation der Legende zu.

R. Lindt wurde jedoch nicht verurteilt. Gestützt auf das Urteil von 1927 konnte ihm auch nach seinem Tod kein vertragswidriges Verhalten nachgewiesen werden. Der Todesfall von A. Lindt fiel mitten in den Berufungsprozess und die Vergleichsverhandlungen. Die Unterzeichnung des Vergleichs erfolgte somit noch während der Trauerzeit. Durch das tragische Ereignis wurde die Berner Seite massiv geschwächt. Daraufhin folgte die Schliessung der A & W Lindt, wodurch Arbeitsplätze verloren gingen. Angesichts dieser Schicksalsschläge verliert der Text jegliche Ironie.

Im Vergleich mit anderen Biografien wirkt die Darstellung in «Patriarchen» derart schwach, dass von einem Lindt-Paradox gesprochen werden kann. Mithilfe einer Frage-Antwort-Technik wurde anschliessend versucht, mögliche Folgen der Abwertungen zu ergründen. Diese Herleitungen bleiben strittig, weil kein direkter Kausalzusammenhang besteht. Die erhitzen Gemüter begünstigten jedoch ein Umfeld, in dem die Erinnerungen an R. Lindt dahinschmelzen konnten. Die Berner Schmelzschokolade wurde davon in Mitleidenschaft gezogen. Da die Darstellung teilweise auf Unwahrheiten basiert, hat das Buch dem Schweizer Kulturerbe einen Bärendienst erwiesen. Auch der Bärin und dem Bären wurde eine teils unwahre Geschichte aufgetischt. Die wichtigste Erkenntnis dieser Gegendarstellung ist daher, dass das süsse Kulturgut der Stadt Bern eindeutig zu Unrecht vom Sockel verdrängt wurde.

Der Wahrheitsgehalt der Legende wurde mit einem Praxistest überprüft. Sie scheiterte dabei am logischen Verständnis. Anschliessend wurden die textlichen Verknüpfungen zum «Zufallswochenende» geprüft. So wie die Legende stellten sich auch die verknüpften Abwertungen als unlogisch heraus. Diese Erkenntnis lässt vermuten, dass gewisse Darstellungen auf die Legendenlogik angepasst wurden. Ohne die Informationen über den Streit und die Todesfälle wirkt die Legende relativ harmlos. Deshalb wird sie hemmungslos verbreitet. Es stellt sich nun die Frage, wie die betroffenen Personen darauf reagiert hätten. Aufgrund der heftigen Auseinandersetzung ist davon auszugehen, dass die Verliererseite das Zufallswochenende als persönlichen Angriff empfunden hätte.

An dieser Stelle der Beurteilung muss noch ein wichtiger Parameter des Berner Verfahrens erklärt werden. Je länger eine Masse conchiert wird, desto mehr Aromen verflüchtigen sich mit der Wasserverdampfung. Mit Anspielung auf den Zeitraum eines Wochenendes hinterlässt die Legende somit einen äusserst faden Beigeschmack. Unter Berücksichtigung der Todesfälle ist das Zufallswochenende sogar geschmacklos. Und wäre die Conche tatsächlich während 3 Tagen ohne Aufsicht gelaufen, hätte die hohe Betriebstemperatur nur noch verbrannten Kakao hinterlassen.

Es hängt allein von der Perspektive ab, wie Skandale eingeordnet werden. Die Legende wurde 1995 in einer eher destruktiv-kreativen Schreibstube entwickelt. Im Erfindungsjahr des Zufallswochenendes wurde A. Lindt Junior 90 Jahre alt. Während der «Zeit der Kriege und Krisen» verlor er notabene seinen Vater (1927), seine Mutter (1931) und zuvor bereits seinen Onkel (1909). Die Legende mitsamt den Verknüpfungen war den verstorbenen Personen gegenüber respektlos. Die fragwürdige Darstellung war aber vor allem rücksichtlos gegenüber A. Lindt Junior. Wenn im subjektiven Text von «Patriarchen» geschrieben steht: «Und tatsächlich kam es 1906 zum offenen Skandal…», dann wird ein solcher Skandal in dieser Gegendarstellung 89 Jahre später eingeordnet.

Es muss nochmals darauf hingewiesen werden, dass die Unterteilung in einen Zürcher und Berner Block ausschliesslich der Beurteilung des Konfliktes dient. Im Grunde genommen geht es in dieser Geschichte um Verschmelzung. Diese steht synonym für Vereinigung. Weder Zürich noch der stolze Löwe haben sich diese Suppe eingebrockt. Die Entscheidung lag einzig und allein bei den Kommunikationsverantwortlichen von 1995. Offensichtlich wurde dabei nicht nur das tragische Ereignis aus dem Jahr 1927, sondern auch der runde Geburtstag von A. Lindt Junior übersehen. Über die Abwertungen des wichtigsten Schokoladenpioniers der Schweiz dürfte sich vor allem die ausländische Schokoladenindustrie gefreut haben. Weniger erfreut dürften Medienschaffende sein, welche die Legende bedenkenlos verbreiteten und ihrem Publikum damit unbewusst einen Käse erzählten. Am Ende steht aber ausser Frage, dass das Lebenswerk von R. Lindt eine angemessene Würdigung verdient hat.
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Würdigung

Unter dem Dach der innovativ-kreativen Mühle verschmolz Schokoladenhandwerk mit Apothekerwissen. Aus diesem Wissensbecken an der Aare zog R. Lindt die richtigen Schlüsse. Dadurch wurde er zum Meister der Verschmelzung. Im Jahr 1879 schlug die Geburtsstunde seiner Schmelzschokolade. Sie war damals einzigartig und eine exklusive Spezialität aus Bern. Der Qualitätsvorsprung spornte andere Fabrikanten an, ebenfalls Kakao zum Schmelzen zu bringen. Bis das Geheimnis des komplexen Verfahrens gelüftet werden konnte, dauerte es allerdings einige Jahre. Erst ab 1900 setzte sich das Berner Verfahren allmählich durch und wurde zum Standard in der Schokoladenfabrikation. Infolge dieser technischen Entwicklung wird die Berner Schmelzschokolade heute schlicht Schokolade genannt. Da die Matte als Wiege der modernen Schokolade gilt, darf sich die Schweizer Bundesstadt zurecht als deren Geburtsort rühmen. Dieser Weltruhm ist dem Pioniergeist des Berners R. Lindt zu verdanken.

Die Produktionsdauer für Schmelzschokolade war deutlich länger. Somit waren die Herstellkosten wesentlich höher als bei herkömmlicher Ur-Schokolade. Das bedeutet, dass entweder ein höherer Preis durchgesetzt oder weniger Profit in Kauf genommen werden musste. Nicht der Gewinn, sondern die Qualität war die treibende Kraft hinter der Entwicklung. Demnach stand der Genuss an vorderster Stelle. Es ist genau dieser kulinarische Idealismus, welcher das Entwicklungsprojekt rund um die Berner Schmelzschokolade umso ehrenvoller macht.

Durch das Berner Verfahren erhielt die Schokolade eine homogene Struktur und eine glänzende Oberfläche. Neben diesen optischen Verbesserungen wurde sie auch runder im Geschmack. Die höhere Schmelzeigenschaft verbesserte zudem das Mundgefühl, wodurch sich der Genussmoment intensivierte. Mithilfe des Berner Verfahrens konnte auch das Milch-Kakao-Zucker-Gemisch homogenisiert werden. Im Jahr 1887 entstand so die erste Milchschmelzschokolade in Vevey. Die exakte Kenntnis der einzelnen Parameter verschaffte der Schweiz einen technischen Vorsprung. Dadurch konnte sie sich als Schokoladenland behaupten. Aus denselben Gründen entwickelte sich Bern quasi zu einer «Schokoladenhauptstadt».

Durch das Giessen in Formen konnte im Berner Länggassequartier eine Dreiecksidee realisiert werden. Daraus entstand die heute bekannteste Schweizer Schokolade. Das Schokoladenhandwerk aus der Matte konnte somit vielen weiteren innovativ-kreativen Schokoladenmachern im In- und Ausland den Weg ebnen. Mittelfristig begünstigte das Berner Verfahren die Automatisierung. Dadurch sanken die Produktionskosten, sodass Schokolade für ein breites Publikum erschwinglich wurde. R. Lindt und sein Team verliehen der Schokolade Flügel und revolutionierten damit die Schokoladenwelt. Mit der Homogenisierung kam auch der Erfolg bei der Milchschokolade. Für die Landwirtschaft entstand so ein neuer Absatzkanal. Der inländische Wirtschaftskreislauf wurde dadurch gestärkt. Das war für die Schweizer Landesversorgung von grosser Bedeutung. Somit leistete R. Lindt noch vor den Weltkriegen einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit der Schweiz. Selbst seine Widersacher mussten in einem juristischen Schreiben anerkennen, dass sein Lebenswerk Weltruf hatte.

Aufgrund seiner finanziellen Lage hätte R. Lindt eigentlich nicht mehr arbeiten müssen. Trotzdem setzte er sich auch nach dem Verkauf für den Berner Werkplatz ein. Für die Arbeiter und Arbeiterinnen im Mattequartier stiftete er zwei Mal einen Invalidenfond. Bis zu seinem Rückzug im Jahr 1905 gelang es ihm jedoch nicht, die Mehrheit im Verwaltungsrat von der Standortregelung zu überzeugen. Damit hätte der autonome Betrieb des Standortes in Bern geregelt werden sollen. Diese Massnahme hätte einen Interessenkonflikt wohl vermieden und somit eine Eskalation verhindert. Streitigkeiten zwischen Filialen sind aber auch heute keine Seltenheit. Es sei ihm also verziehen, wenn auch er sich zwischendurch ein Glas Wein in einem «edlen Salon» genehmigte. Vorbehaltslos und ohne jegliche Zweifel darf man stolz auf das Lebenswerk von R. Lindt sein. In Tat und Wahrheit handelt es sich nämlich um eine positive Genussgeschichte, und zwar von A bis Z oder im übertragenen Sinne von der fair gehandelten Bohne bis zur köstlichen Tafel.
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Tilda