Schokolade: Eine wahre geschichte

Streit

Bei der Legende bleiben die Streitereien und Todesfälle im Dunkeln. Um Klarheit zu schaffen, muss auch diese Schokoladenseite beleuchtet werden.
Streit

Konfliktanalyse

Im Zuge der «Verschmelzung» zwischen der Schokoladenunternehmen in Bern und Zürich gab es interne Differenzen. Es folgte der Rücktritt von R. Lindt im Jahr 1905. Nach der «Trennung» entstand im Mattequartier ein zweiter Schokoladenbetrieb. Daraufhin eskalierte der Streit und es kam zu vier «Zivilprozessen», welche vor dem Berner Obergericht verhandelt wurden. In diese Zeit fallen die «Todesfälle» von R. Lindt (1909), J. Sprüngli (1926) und A. Lindt (1927). Die Liquidation der A & W Lindt im Jahr 1928 läutete das Ende des Schokoladenhandwerkes in der Matte ein.

Die Zusammenarbeit mit einer dünkelhaften, exzentrischen, launischen, eitlen, faulen etc. Person ist bestimmt nicht einfach. Diese Charaktereigenschaften aus der Wochenendkategorie beeinflusst zwangsläufig die Beurteilung des Streits. Gemäss diesem Narrativ soll allein R. Lindt für den Bruch von 1905 verantwortlich gewesen sein. Angeblich wurde er für sein Verhalten sogar verurteilt. Diese Unwahrheit ist sozusagen das Sahnehäubchen obendrauf. Da ein verurteilter Pionier seine Vorbildfunktion einbüsst, kann selbst ein Weltruf an Glanz verlieren. Das Lebenswerk von R. Lindt war demnach nicht nur «unverdient», sondern auch «unehrenhaft».

Für einen Streit braucht es mindestens zwei Personen. In «Patriarchen» ist die Zürcher Ausgangslage jedoch viel zu ungenau beschrieben. Dieser Umstand erfordert zunächst eine Situationsanalyse. Nur so kristallisiert sich ein Interessenskonflikt heraus, der am Ursprung des Konfliktes gestanden haben könnte. Erst danach kann eine Beurteilung des Streites vorgenommen werden. Durch den Sachverhalt verschiedener Urteile ist die Objektivität dabei gewährleistet. Die Diskrepanz zur Faktenlage weist auf weitere Ungereimtheiten hin. In der öffentlichen Wahrnehmung müsste dieses Kapitel eigentlich ein Wendepunkt sein.

Rechtliche Abgrenzung: Dieser heikle Teil der Geschichte erfordert zuerst eine Präzisierung. Im Zentrum dieser Gegendarstellung steht die Darstellung in «Patriarchen». Sie betrifft in keiner Weise die Confiserie Sprüngli, welche seit 1892 als eigenständige juristische Person geführt wird und rein gar nichts mit R. Lindt zu tun hatte. Die Richtigstellung involviert ebenso wenig die Chocolat Sprüngli, aus welcher die vereinigte Berner und Zürcher Chocoladenfabriken Lindt sowie Sprüngli AG entstand und welche nachfolgend als vereinigtes, fusioniertes oder verschmolzenes Unternehmen bezeichnet wird. Für die Jahre nach 1905 wird sie auch Klägerin, Gegenseite oder Gegenpartei genannt.
Streit

Situationsanalyse

Im Gerichtsurteil gegen den Bruder von R. Lindt aus dem Jahr 1909 wurde ein Hinweis gefunden. Demzufolge hätte der autonome Betrieb der Standorte in Zürich und Bern geregelt werden müssen. Es stellt sich nun die Frage, warum die Käufer dieser Berner Verkaufsbedingung nicht nachkamen. Für die Situationsanalyse werden die Interessen der zwei Standorte zuerst beschrieben. Danach kann geprüft werden, ob ein Zielkonflikt zwischen den Interessen bestanden haben könnte. Gemeint sind damit aber nur die Absichten der standortverantwortlichen Personen. Im Kern dieser Geschichte geht es um Verschmelzung, welche die Lösung eines Trennungsproblems war. Die regionale Differenzierung bezieht sich also weder auf die Bevölkerung in Zürich noch in Bern. In der einen Stadt geht es etwas schneller zu und her. In der anderen ist man dafür etwas gemütlicher. Situativ hat beides seine Vor- und Nachteile.

1970 erschien der Band über die «Pioniere Sprüngli und Lindt» aus der Buchreihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik». Mithilfe dieser Wirtschaftsbiografie von H. R. Schmid kann nun auch noch die Situation in Zürich beschrieben werden. Im Jahr 1892 wurde der Familienbetrieb auf zwei Söhne aufgeteilt. Die Schokoladenfabrikation wurde anschliessend von J. Sprüngli weitergeführt. Produziert wurde in der Stadt Zürich. Genauer gesagt in der Werdmühle. Dort wurde die Wasserkraft des Sihlkanals genutzt.

Die Gründung der Chocolat Sprüngli AG erfolgte im Jahr 1898 mit einem Aktienkapital von 1.5 Mio. Im selben Jahr begann der Bau einer Schokoladenfabrik in Kilchberg am Zürichsee. Für das Bauvorhaben wurde 1 Mio. budgetiert. 1899 wurde die Berner Rod. Lindt Fils für 1.5 Mio. übernommen. Im gleichen Umfang wurde eine Aktienkapitalerhöhung durchgeführt (schweizerisches Handelsamtsblatt 1899, Nr. 138, S. 555). Da der Fabrikbau jedoch 1'500'000.- statt 1'000'000.- kostete, geriet das Budget aus dem Lot (Pioniere der Wirtschaft und Technik, Sprüngli und Lindt, H. R. Schmid, S. 78). Die 500'000.- waren alles andere als ein Pappenstiel: Die Mehrkosten lagen 50 Prozent über dem Budget und entsprachen einem Drittel des Aktienkapitals von 1'500’000.- aus dem Jahr 1898. Diese nicht budgetierten Baukosten hätten heute einen Wert von 19.5 Mio. (Faktor 39) bis 25 Mio. (Faktor 50). Für die Begründung dieser Faktoren wird auf das Kapitel «Legende», Abschnitt «Wochenende» und dort die Verkaufskooperation mit Tobler verwiesen. Bei der F35-Kampfflugzeugbeschaffung spricht man über mögliche Mehrkosten im Umfang von 11 bis 22 Prozent. Gestützt auf die Studie «Betrachtung zur Jahresrechnung 1899-1900» schreibt H. R. Schmid in seinem Buch:

«Der Vizepräsident des Verwaltungsrates verlangte eine schonungslose Überprüfung der Baurechnung. Die Zinsen dieser halben Million Mehrkosten mussten nun aus dem Betrieb herausgewirtschaftet werden… Immerhin ergab die Untersuchung, dass der Geschäftsleitung keine schwerwiegenden Versäumnisse nachgewiesen werden konnten, es sei denn, dass beim Bau zu grosszügig vorgegangen worden war. Das Problem lag vielmehr darin, dass jeder grosszügige Neubau eine andere Kostenstruktur zu bewältigen hat im Vergleich zu einem bestehenden Betrieb wie z. B. jener von Lindt in Bern, der abgeschrieben, voll ausgelastet und in mancher Beziehung veraltet war (Pioniere der Wirtschaft und Technik, Sprüngli und Lindt, H. R. Schmid, S. 78/79)».


«Die Zinsen dieser Mehrkosten mussten nun aus dem Betrieb herausgewirtschaftet werden» bedeutet im Klartext, dass die Vollauslastung der neuen Fabrik angestrebt werden musste, um die zu hohen Baukosten durch Mehreinnahmen ausgleichen zu können.

Gemäss Urteil von 1927 musste der Kaufpreis für die Rod. Lindt Fils von 1.5 Mio. bis zu einem Drittel abgeschrieben werden. Hierfür wurde eine jährliche Mindestabschreibung von 75'000.- vereinbart. Neben den Abschreibungen der Baukosten fielen somit auch noch diejenigen der Übernahme an. Diese Amortisationskosten belasteten das jährliche Finanzergebnis über mehrere Jahre. Während dieser Zeit war der Spielraum für weitere Investitionen sehr begrenzt.

Um sich ein Bild von der Situation in Bern machen zu können, muss zunächst das Grössenverhältnis der beiden Unternehmen betrachtet werden. Im Urteil von 1927 wird der Sachwert der Rod. Lindt Fils im Jahr 1899 mit rund 200'000.- beziffert. Diese Bewertung entspricht rund 13 Prozent der damals für 1'500'000.- fertiggestellten Fabrik in Kilchberg. Demzufolge bestand für den Berner Standort die Gefahr, im fusionierten Unternehmen an Bedeutung zu verlieren und letztlich von der Bildfläche zu verschwinden. Um den Erhalt der Arbeitsplätze in der Matte auch nach einem Verkauf gewährleisten zu können, musste diesem Risiko vorgebeugt werden. Zu diesem Zweck liess R. Lindt eine Standortklausel im Kaufvertrag von 1899 integrieren. Nach der Übernahme hätte diese Standortregelung in die Statuten des fusionierten Unternehmens übernommen werden müssen. Im Urteil gegen seinen Bruder im Jahr 1909 griff das Obergericht diese Angelegenheit erneut auf und hielt diesbezüglich fest:

«Richtig ist nun allerdings, dass sub. Ziff. 4 des Kaufvertrages vom 1./16. März 1899 die käuferische Aktiengesellschaft sich zu einer Statutenänderung verpflichtete, wonach u.a. dort bestimmt werden sollte, dass die Geschäfte in Zürich, bezw. Kilchberg, und dasjenige in Bern beide selbständig, jedoch stets in gegenseitigem Einverständnis arbeiten (Urteil gegen A. Lindt 1909, Obergericht, S. 10)».


Nun stellt sich die Frage, welche Konsequenzen die Umsetzung der Standortklausel mit sich gebracht hätte. 1899 stand die Mühle in der Berner Matte bereits im 20. Dienstjahr. Entsprechend bemerkt der Autor H. R. Schmid bei der Betrachtung zur Jahresrechnung 1899-1900:

«…, dass der Betrieb von Lindt in Bern in mancher Beziehung veraltet war».


In Puncto Grösse war er demjenigen in Kilchberg klar unterlegen. Eine Modernisierung der Schokoladenmühle wäre somit notwendig gewesen, um mit der Produktivität der nigelnagelneuen Schokoladefabrik mithalten zu können. Daraus folgt, dass der Erhalt der Berner Mühle mit Erneuerungsinvestitionen verbunden war.

Hierfür könnte jedoch das Geld gefehlt haben, weil die Baukosten am Zürichsee überbordet waren. Die Standortregelung hätte somit nur umgesetzt werden können, wenn zusätzliches Geld in die Aktiengesellschaft eingezahlt worden wäre. Im Anschluss an die Aktienkapitalerhöhung für die Übernahme hätte der Investitionsbedarf im Zusammenhang mit der Modernisierung ein Fass ohne Boden bedeuten können. Das heißt: Die Verkaufsbedingung hinsichtlich der Regelung zwischen den zwei Standorten wurde nach der Übernahme zu einer vertraglichen Verpflichtung. Damit waren jedoch Investitionen am Berner Standort verbunden, die aufgrund der Abschreibungskosten und ohne zusätzliches Kapital nicht möglich waren. Unter diesen Umständen hätte diese Vertragsklausel ein finanzielles Risiko für die Zürcher Kapitalgeber dargestellt. Dies würde zumindest erklären, warum die Standortklausel schliesslich nicht umgesetzt wurde. Bei der oben zitierten Feststellung kam das Berner Obergericht nämlich zum Schluss:

«Richtig ist nun allerdings, dass sub. Ziff. 4 des Kaufvertrages vom 1./16. März 1899 die käuferische Aktiengesellschaft sich zu einer Statutenänderung verpflichtete, wonach u.a. dort bestimmt werden sollte, dass die Geschäfte in Zürich, bezw. Kilchberg, und dasjenige in Bern beide selbständig, jedoch stets in gegenseitigem Einverständnis arbeiten; allein das Postulat der selbständigen Leitung der beiden Fabriken hat dann in den Statuten der Klägerin doch keinen Ausdruck gefunden… (Urteil gegen A. Lindt, Obergericht, S. 10).»


Die Abschreibungen der Bau- und Übernahmekosten belasteten das Finanzergebnis. In Bern wollte man hingegen die Mühle erhalten und hätte deshalb Geld für die Erneuerungsinvestitionen benötigt. Daraus lässt sich ein finanzieller Zielkonflikt herleiten. Demzufolge waren die Interessen in Zürich und Bern unterschiedlich. Dieser Interessenskonflikt könnte für Unstimmigkeiten gesorgt haben.

Während die Streitigkeiten in «Patriarchen» primär mit dem Charakter von R. Lindt begründet wird, hat die Situationsanalyse eine doch eher sachliche Erklärung gefunden. Demnach hätte ein Interessenskonflikt bestanden, mit welchem die zwei Standorte ins 20. Jahrhundert starteten.

Der Kauf der Schokoladenfabrik im Jahr 1899 zog Abschreibungen mit sich, welche den finanziellen Spielraum reduzierten.
Nebst den Mehrkosten des Baus musste auch noch der Kaufpreis für die Rod. Lindt Fils abgeschrieben werden. Erstaunlicherweise lagen die jährlichen Abschreibungen bis 1905 über dem in den Statuten verankerten Mindestwert. Das Finanzergebnis wurde dadurch zusätzlich belastet. Dieser Umstand könnte weitere Fragen aufwerfen (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S. 10).
Streit

Verschmelzung (Trennung)

Mithilfe der Situationsanalyse konnte auch noch die Zürcher Seite beleuchtet werden. Die Interessen der beiden Standorte sind Ansichtssache. Trotzdem ist nun mehr Objektivität vorhanden, um auch noch die Darstellung des Streites analysieren zu können. Für den weiteren Verlauf wird vorwiegend auf den Sachverhalt zurückgegriffen, wie er in den Urteilen von 1909 und 1927 beschrieben wurde.
Nach der Übernahme wurde A. Lindt zum Direktor des Berner Standortes. Er war der jüngere Bruder von R. Lindt. Die zwei Brüder nahmen zudem Einsitz im Verwaltungsrat des verschmolzenen Unternehmens. W. Lindt erhielt als Buchhalter die Prokura. Er war der Cousin der beiden Brüder.

Zitat: In Zürich entstand der Eindruck, dass die Brüder Lindt sich in den Kopf gesetzt hatten, J. Sprüngli von der Spitze des Unternehmens zu verdrängen (Patriarchen, A. Capus, S. 25).

Gegendarstellung: Dieser Satz bezieht sich auf die Zeit nach der Unternehmensfusion im Jahr 1899. Gemäss dem Urteil von 1909 gegen A. Lindt setzte sich der Verwaltungsrat aus 7 Personen zusammen. Die beiden Brüder waren mit 2 Sitzen vertreten. Die restlichen 5 Sitze fielen auf J. Sprüngli und seine Zürcher Entourage. Gestützt auf das Urteil von 1927 war aber auch das Eigentumsverhältnis klar zugunsten von Zürich. Für den Verkauf im Jahr 1899 erhielt R. Lindt 1'350 Aktien à 500.- übertragen. Dieses Aktienpaket entsprach einem Wert von 675'000.- beziehungsweise 23 Prozent des Aktienkapitals von 3'000'000.- (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S. 3). Folglich herrschte im Verwaltungsrat und in den Aktionärsversammlungen eine deutliche Zürcher Dominanz.

Abweichung: Hier versucht das Narrativ aus David einen Goliath zu machen. Im Hinblick auf die «Wochenendkategorie» macht der dort beschriebene Charakter immer mehr Sinn. Demzufolge soll der «exzentrische» R. Lindt sogleich die vollständige Machtübernahme angestrebt haben. Die Zusammensetzung des Verwaltungsrates wird im Buch nicht erwähnt. Dadurch entsteht der Eindruckt, dass J. Sprüngli durch die «Brüder Lindt» ohne weiteres von der Spitze hätte verdrängt werden können. Der Berner Seite wird also eine Absicht unterstellt, für welche es ein Überspiel benötigt hätte. Ein solches war bei numerischer Unterlegenheit jedoch unmöglich. Unter Berücksichtigung des tatsächlichen Stimmenverhältnisses von 2 zu 5 ist ein solches Szenario für jedermann unrealistisch. Die Verschleierung der Zürcher Mehrheit führt unwillkürlich zu einer Fehleinschätzung der Situation. Damit ist der Weg frei, um die Berner Minderheit zum Sündenbock zu machen.

Im Widerwasser der Aare könnte die Situation aber auch ganz anders gewesen sein. Die jährlichen Abschreibungen strapazierten die Finanzressourcen. Die Standortklausel im Kaufvertrag war mit einer Modernisierung der Berner Mühle verbunden. Dieser Investitionsbedarf könnte für die Kapitalgeber ein finanzielles Risiko dargestellt haben. Bedenkt man nun, dass im Unternehmen niemand mehr auf die Umsetzung der Standortklausel gepocht hätte, wenn die «Brüder Lindt» zum Rücktritt gebracht worden wären. In diesem rein hypothetischen Fall – und schon auch ein bisschen durch die Bärenbrille betrachtet – hätte sich mit den zwei Brüdern auch das Unternehmensrisiko verabschiedet. Bei numerischer Überzahl der Zürcher wäre dieses Szenario zumindest realistischer als umgekehrt.

Doch wie hätte man R. Lindt zum Rücktritt bringen können? Also jetzt mal ganz spekulativ. Angenommen, man hätte jährlich einen höheren Betrag abgeschrieben, als in den Statuten vorgesehen war. Juristisch wäre das zwar zulässig gewesen. Dadurch wäre das Finanzergebnis jeweils tiefer ausgefallen. Das hätte jedoch auch bedeutet, dass in Bern noch weniger Geld für Erneuerungsinvestitionen zur Verfügung gestanden hätte. Es ist daher fraglich, ob Abschreibungen oberhalb des statutarischen Mindestwertes mit der Standortklausel konform waren. Später notierte das Berner Obergericht in dieser Sache, dass die jährlichen Mindestabschreibungen der Übernahmekosten der Rod. Lindt Fils in den Statuten auf 75'000.- festgelegt wurden. Demnach hätten zwischen 1899 und 1905 vom Kaufpreis von 1'500'000.- mindestens 525'000.- abgeschrieben werden müssen. Beim Rücktritt der «Brüder Lindt» im Jahr 1905 waren jedoch bereits 600'000.- abgeschrieben (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S. 10).
Ab 1906 gab es im Mattequartier zwei Schokoladenfabriken. In diesen wurde Kakao mit Zucker conchiert und die Schokoladenmasse anschließend temperiert, bevor sie in Formen gegossen wurde.
Zitat: Als ihnen das nicht gelang, erstellten Rodolphe und August in der Berner Matte kurzerhand eine zweite Lindt-Schokoladenfabrik – nicht im Auftrag der Firma, sondern als ihr privates Eigentum, um sie an Lindt & Sprüngli zu vermieten. Das war zwar sonderbar, aber in Zürich schöpfte man erst Verdacht, als Rodolphe und August Lindt den Mietvertrag kündigten und am 14. Oktober 1905 von all ihren Ämtern bei Lindt & Sprüngli zurücktraten. Dass zur gleichen Zeit die gesamte Führungsetage der Berner Fabrik kündigte, liess Schlimmes ahnen. Und tatsächlich kam es ein halbes Jahr später zum offenen Skandal, als August und Walter Lindt in ihrer neuen Fabrik auf eigene Rechnung unter der Marke «A & W Lindt in Bern» die Schokoladenproduktion nach Rodolphe Lindts Rezeptur aufnahmen (Patriarchen, A. Capus, S. 25).

Hinweis: Die Formulierungen «zweite Lindt-Schokoladenfabrik» und «auf eigene Rechnung» sind ungeschickt gewählt. Aus diesem Grund sorgt diese Textpassage am häufigsten für Verwirrung. Sie macht beispielshaft deutlich, wie allein die Berner Seite für die Trennung verantwortlich gemacht wird. Somit kann sie als Paradebeispiel des Buches bezeichnet werden. Darin werden zwei Dinge angesprochen, zwei wichtige jedoch nicht. Die Entwirrung dieser missverständlichen Stelle erfolgt in vier Akten.
Verschmelzung

Erster Akt: Missverstandenes Gewerbegebäude

Gegendarstellung: 1902 kaufte R. Lindt tatsächlich eine Liegenschaft, die er an das fusionierte Unternehmen vermietete. Im Urteil von 1927 ist dieses Immobiliengeschäft bestens dokumentiert. Das Gericht hielt damals fest:

«Mit Recht machen nämlich die Beklagten darauf aufmerksam, dass die sofortige Mitteilung des Kaufs des Gewerbegebäudes an die Klägerin zwei Tage nach Abschluss des Kaufs unter Zurverfügungstellung für die Zwecke der Klägerin gegen eine damals schon bestehende Absicht spricht, in den Räumen dieser Fabrik eine Konkurrenzfirma zu eröffnen (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S. 25).


Aus den folgenden Gründen war dieses Geschäft sinnvoll. So könnte das vereinigte Unternehmen zu wenig Geld für weitere Investitionen gehabt haben. Durch den Verkauf der Rod. Lindt Fils sah die finanzielle Situation bei R. Lindt jedoch ganz anders aus. Der Kauf als Privatperson ist somit nachvollziehbar. Das Gewerbegebäude stand zudem direkt neben der Schokoladenmühle. Also war es nur die logische Konsequenz, dass das Kaufobjekt danach an das eigene Unternehmen vermietet wurde.

Abweichung: Die Formulierungen «zweite Lindt-Schokoladenfabrik» und «auf eigene Rechnung» könnten den Eindruck erwecken, dass es sich bereits 1902 um eine Konkurrenzfirma handelte. Zu diesem Zeitpunkt war R. Lindt jedoch noch Verwaltungsrat. Hätte er damals mit einer «privaten» Produktion in die eigene Tasche gewirtschaftet, wäre das eine grobe Verletzung seiner Treuepflicht gegenüber der «Lindt & Sprüngli» gewesen. Wenn im Gewerbegebäude tatsächlich eine «zweite Lindt-Schokoladenproduktion» gewesen wäre und man von der «Lindt & Sprüngli» eine Miete verlangt hätte, so hätte die Gegenleistung gefehlt. In diesem Fall wäre die Miete eine ungerechtfertigte Bereicherung gewesen. Aufgrund seines Verwaltungsratsmandates wäre dieses Verhalten einer ungetreuen Geschäftsbesorgung gleichgekommen. Wenn man dieser Interpretation folgt, dann hätten die Vorkommnisse rund um die private Liegenschaft strafrechtliche Relevanz gehabt. Im Urteil von 1909 oder 1927 hätte demnach eine Strafuntersuchung erwähnt werden müssen. Da dies nicht der Fall ist, müssen sich die Geschehnisse im legalen Bereich abgespielt haben. Im Urteil von 1927 kam der Oberrichter vielmehr zum Schluss, dass sich der 1909 verstorbene R. Lindt während seiner Zeit als Verwaltungsrat der «Lindt & Sprüngli» kein vertragswidriges Verschulden hatte zukommen lassen (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S. 26). Das ist gewissermassen eine Décharge post mortem.

Dieser Immobilienkauf stützt die in der Situationsanalyse getroffene Annahme, dass in der Matte ein Investitionsbedarf vorhanden war. Der Kauf als Privatperson deutet zudem darauf hin, dass die Zürcher Unternehmenszentrale nicht weiter in Bern investieren konnte oder wollte. Denn R. Lindt hätte das Gewerbegebäude sicherlich nicht privat erworben, wenn die Investition aus Zürich finanziert worden wäre.
Verschmelzung

Zweiter Akt: Unerwähnte VR-Sitzung mit Sprengpotential

Gegendarstellung: Gemäss Urteil von 1909 gegen A. Lindt entschied der Verwaltungsrat im Jahr 1905, das Deutschlandgeschäft nur noch aus Kilchberg zu bedienen. In dieser Sache wurde im Urteil festgehalten:

«Durch diesen Beschluss wurde allerdings die Aktionsfreiheit der Berner Fabrik mit Bezug auf ihr Absatzgebiet in Deutschland in ziemlicher Weise eingeschränkt und man könnte sich fragen, ob diese Massnahme des Verwaltungsrates zweckmässig war (Urteil gegen A. Lindt 1909, Obergericht, S. 12)».


Dieser Verwaltungsratsbeschluss zu Ungunsten von Bern verdeutlicht das einseitige Stimmenverhältnis von 2:5 im Verwaltungsrat. Es ist jedenfalls klar, dass direkt im Anschluss die Rücktritte von R. und A. Lindt aus dem Verwaltungsrat folgten. A. Lindt kündigte zudem seine Stelle als Direktor des Berner Standortes. W. Lindt tat es seinen Cousins gleich und verliess «Lindt & Sprüngli» ebenfalls.

Damit endete die berufliche Laufbahn des Meisters der Verschmelzung, welche mit einer Lehre in der Schokoladenfabrik seines Onkels am Lac Leman begonnen hatte. Dank des Verkaufs seiner Rod. Lindt Fils konnte er sich bereits im Alter von 51 Jahren eine Frühpension leisten. Der einzige Makel seiner ansonsten glanzvollen Karriere war, dass das Projekt der Vereinigung zwischen der Berner und Zürcher Betriebe nun ohne ihn weitergeführt wurde. Damit verlor der Werkplatz in der Matte eine gewichtige Stimme im Verwaltungsrat, welcher sowieso stark aus Zürich dominiert wurde.

Abweichung: Diese Verwaltungsratssitzung wird im Buch nicht erwähnt. Nun stellt sich die Frage, wie bedeutend die Folgen dieses Beschlusses für den Berner Standort waren. In der «Wochenendkategorie» wurde bei der Zusammenarbeit mit Tobler bereits darauf hingewiesen, wie wichtig die Exporte nach Deutschland für die Rod. Lindt Fils gewesen waren. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass der deutsche Markt auch nach der Übernahme bedeutend blieb. In der Situationsanalyse wurde zudem das Grössenverhältnis zwischen den Standorten in der Matte und Kilchberg angesprochen. Ohne das Deutschlandgeschäft wäre der ohnehin bescheidene Anteil am Gesamtumsatz nahezu bedeutungslos geworden. Weniger Umsatz hätte einen Stellenabbau in Bern zur Folge haben können. Die Argumente für den Erhalt der Berner Schokoladenmühle hätten sich durch diesen Beschluss verringert.

Die Standortklausel im Kaufvertrag von 1899 hätte ein solches Szenario wohl verhindern sollen. Ob der einschneidende Entscheid mit dieser Vertragsklausel konform war, ist eher fraglich. Fest steht jedenfalls, dass dieser Wechsel in der Verkaufsstrategie zu den Rücktritten führte. Folglich hatte der Verwaltungsratsentscheid eine grosse Bedeutung für den Berner Standort. Dadurch kam es zur Trennung zwischen den beiden Seiten. Es war somit ein wichtiger Wendepunkt im Leben von R. Lindt. Diese Verwaltungsratssitzung hätte deshalb unbedingt im Buch erwähnt werden müssen. Durch die Nichterwähnung können die Rücktritte zum Nachteil der Berner Seite interpretiert werden.
Verschmelzung

Dritter Akt: Matrosen und Piraten aus dem Schwarzen Quartier

Gegendarstellung: Erst ab 1906 kann von einer «zweiten Fabrik» gesprochen werden. Nach seinem Rücktritt als Verwaltungsrat und der Kündigung seiner Direktorenstelle kaufte A. Lindt das Gewerbegebäude, welches sein Bruder R. Lindt im Jahr 1902 gekauft hatte. Mit dem Vetter W. Lindt richtete er darin eine «eigene Schokoladenfabrikation» ein. Damals musste im Firmennamen einer Kollektivgesellschaft zwingend der Familienname verwendet werden. Aus diesem Grund lautete die neue Firma A & W Lindt. In dieser Sache wurde im Urteil von 1927 festgehalten:

«Die Aufnahme des Namens Lindt in der Firma war nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht» (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S 24).


Erst durch die Gründung der A & W Lindt im Jahr 1906 gab es «zwei Lindt-Schokoladenfabriken» in der Matte. 1882 liess R. Lindt die Bezeichnung Rod. Lindt Fils als Marke eintragen. Mit dem Verkauf im Jahr 1899 ging die Marke an das vereinigte Unternehmen über.

Für die Vermarktung liess die A & W Lindt verschiedene Marken eintragen. Später wurde aber hauptsächlich der «Matrosen mit Flagge» als Marke verwendet. Diese Bezeichnung war eine Anspielung auf die Hafenvergangenheit, welche das Mattequartier vor dem Schokoladenhandwerk geprägt hatte. Seit der Napoleonischen Zeit wird die Matte auch das Schwarze Quartier der Stadt Bern genannt.
Die A & W Lindt zog eine Affäre mit sich, die in vier Zivilprozessen vor dem Berner Obergericht mündete. Die ersten drei drehten sich um Arbeitsrecht und dauerten bis ins Jahr 1909. Der vierte wurde hingegen wettbewerbsrechtlich ausgetragen und erstreckte sich bis ins Jahr 1927. Die zentrale Frage lautete damals, ob der Familienname missbräuchlich verwendet wurde.

Wer sich für eine markenrechtliche Streitigkeit um Familiennamen interessiert, dem sei die Lektüre des Bundesgerichtsentscheides in der Causa Guccio Gucci S.p.A und Paulo Gucci empfohlen. Der Enkel des Firmengründers arbeitete eine Zeitlang im bekannten Modeunternehmen und machte sich später als Designer selbständig. Für die Selbstständigkeit versuchte er seinen Familiennamen als Marke eintragen zu lassen, was er schliesslich rückgängig machen musste (P. Gucci / G. Gucci S.p.A, BGE, 116 II, S 614).

Abweichung: Aus dem rechtlichen Sachverhalt geht eindeutig hervor, dass es sich im Jahr 1902 noch nicht um eine «zweite Lindt-Schokoladenfabrik» handelte. Zwar wurde das Gewerbegebäude als «privates Eigentum» erworben. Es wurde danach aber zur Nutzung an die «Lindt & Sprüngli» vermietet. Erst mit der Gründung der A & W Lindt im Jahr 1906 kam eine zweite Schokoladenfabrik hinzu. Im Buch ist allerdings bereits im Jahr 1902 von einer «zweiten Lindt-Schokoladenfabrik» die Rede.

Aufgrund der Formulierung des Zitates könnte der Eindruck entstehen, dass in Bern an der Zürcher Unternehmenskasse vorbeigewirtschaftet wurde. In der Funktion als Verwaltungsrat musste R. Lindt eine noch höhere Treuepflicht wahrnehmen. Der Aufbau einer Konkurrenzfirma hätte für ihn daher umso weitreichendere Konsequenzen gehabt. Gemäss diesem Narrativ sollen er und sein Bruder noch während ihrer aktiven Zeit gegen die Interessen der Unternehmensspitze gearbeitet haben. So soll der Bruch im Jahr 1905 herbeigeführt worden sein. Demnach wäre allein die Berner Seite für das Scheitern der Vereinigung der beiden Schokoladenunternehmen verantwortlich gewesen. Würde die zitierte Stelle nun auf diese Art falsch interpretiert, so würde dies die Beurteilung des Streites zum Nachteil von R. Lindt beeinflussen. In diesem Fall wäre er nicht nur «unprofessionell» und «faul», sondern auch noch «illoyal» gegenüber den Käufern der Rod. Lindt Fils gewesen.
Der Matrose mit der Flagge war eine Schweizer Schokoladenmarke..
Der Matrose mit der Flagge war das Hauptlogo der A & W Lindt, unter welchem die Schokolade verkauft wurde. Damit wurde auf die Hafenvergangenheit der Matte angespielt. Dieser älteste Stadtteil von Bern ist am Fluss der Aare gelegen und wird auch Schwarzes Quartier genannt
Verschmelzung

Vierter Akt: A. Lindt Junior - ein Schweizer Kosmopolit durch und durch

Gegendarstellung: 1905 war die Geburt des Sohnes von A. und L. Lindt. Da er den gleichen Vornamen wie sein Vater hatte, wird er fortan A. Lindt Junior genannt. Im weiteren Verlauf der Eskalation wird er erst seinen Onkel R. Lindt, dann am Ende des vierten Prozesses seinen Vater und kurzdarauf auch noch seine Mutter verlieren. Noch während der Trauer um seinen verstorbenen Vater wird er den aussergerichtlichen Vergleich im Jahr 1928 mitunterzeichnen müssen. Später wird er die Schweizer Interessen im Aktivdienst des Zweiten Weltkrieges und danach als Diplomat im Ausland vertreten. Wie gewohnt wird er im Alter von 90 Jahren auf eine Demütigung seines Vaters und Onkels mit einer staatsmännischen Haltung reagieren. Der Staatsmann stirbt im Jahr 2000. In seinen Memoiren sind folgende Erinnerungen an den Onkel vermerkt:

«Onkel Ruedi war der einzige Erwachsene, der zu mir wie zu einem Gleichaltrigen sprach. Er war nie herablassend oder belehrend und redete schon gar nicht in der mir verhassten Kindersprache (August Lindt, Patriot und Weltbürger, R. Wilhelm, P. Gygi, E. Iseli, D. Vogelsanger, Seite 32)».


Abweichung: Im Buch kommt aber auch die familiäre Situation zu kurz. A. Lindt war mit L. Lindt verheiratet. 1904 kam das erste Kind auf die Welt. Auf die Tochter folgte 1905 die Geburt von A. Lindt Junior. Für die Eltern ist diese Zeit ein Wechselbad der Gefühle. Aufgrund seiner privaten Situation könnte A. Lindt keine Lust mehr auf den anhaltenden Zwist mit der Zentrale in Zürich gehabt haben. Damit wäre ein weiterer Grund für seine Kündigung als Direktor des Berner Standortes vorgelegen. Am Ende des vierten Zivilprozesses wird der Sohn von A. und L. Lindt unfreiwillig eine Nebenrolle einnehmen müssen.

Spätestens bei der Quellenprüfung des Buches wird das Geburtsjahr von A. Lindt Junior aber die Hauptrolle übernehmen und das offenbar angestrebte Narrativ endgültig zum Kippen bringen.
Ab 1906 gab es zwei Schokoladenfabriken im Mattequartier. Ab 1928 wurde Schokolade aber nur noch an einem Standort produziert.
Beim Blick von der Nydeggbrücke hinunter ins Mattequartier kann man heute noch «Fabrique de Chocolat … W. Lin…» lesen. 1906 gegründet stand die A & W Lindt im Schwarzen Quartier der Stadt Bern. Am 1. April 1928 wurde sie vom vereinigten Unternehmen liquidiert. Damit begann der Niedergang des Schokoladenhandwerkes mit Weltruf in der Matte.
Streit

Zivilprozesse (Todesfälle)

Anstelle von «Appellationshof» wird in dieser Gegendarstellung die geläufigere Bezeichnung «Obergericht» gewählt worden. Zwischen 1906 und 1927 wurden vier Zivilprozesse vor dem Berner Obergericht verhandelt, bei welchen es um Schadenersatzansprüche ging. Die ersten drei Prozesse orientierten sich am Arbeitsrecht und dauerten bis ins Jahr 1909. Beim vierten Prozess ging es hingegen um unlauteren Wettbewerb, welcher bis 1943 im Obligationenteil des Zivilgesetzbuches geregelt war. Das Urteil der zweiten Instanz von 1927 wurde ans Bundesgericht weitergezogen. Dieser Berufungsprozess wurde jedoch hinfällig, weil sich die Streitparteien aussergerichtlich einigen konnten.

Zitat: Selbstverständlich bestritt Lindt, «an der neuen Firma mit Kapital, Rat oder Tat beteiligt zu sein», aber das glaubte ihm niemand (Patriarchen, A. Capus, S. 26).

Gegendarstellung: Dieser zitierte Satz bezieht sich auf die ersten drei Zivilprozesse. Konkret ist damit die unter Eid gemachte Aussage von R. Lindt aus dem Jahre 1906 gemeint. Er stellte dabei eine Beteiligung an der A & W Lindt in Abrede (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S. 25). Es muss davon ausgegangen werden, dass R. Lindt nach seinem Rücktritt im Jahr 1905 mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte. Das Testament von 1907 könnte ein erster Hinweis sein. Damals setzte er seinen jüngeren Bruder als Universalerben ein (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S. 17). Nach seinem Tod im Jahr 1909 lautete die Todesanzeige wie folgt:

«…, dass es dem Allmächtigen gefallen hat, unseren innigst geliebten Sohn, Bruder, Schwager, Onkel und Neffen, Herr Rudolf Lindt, gew. Fabrikant nach längerem Leiden, unerwartet rasch, in die ewige Heimat abzurufen (Der Bund vom 22./23. Februar 1909)».


Durch den Verkauf der Rod. Lindt Fils im Jahre 1899 wurde R. Lindt ein wohlhabender Mann. Anschliessend sass er im Verwaltungsrat seines fusionierten Unternehmens. Wäre er nach seinem Rücktritt tatsächlich in die A & W Lindt involviert gewesen, hätte er damit die Treuepflicht gegenüber seinem ehemaligen Unternehmen verletzt. Es stellt sich nun die Frage, ob eine kranke, finanziell unabhängige und rational denkende Person überhaupt ein solches Risiko eingegangen wäre.

Nach dem Tod von R. Lindt im Jahr 1909 folgte der vierte Zivilprozess gegen seinen Bruder und Cousin, der bis 1927 dauerte. Dabei versuchte die Gegenseite, die Glaubwürdigkeit der eidesstattlichen Erklärung von R. Lindt aus dem Jahr 1906 in Zweifel zu ziehen.

Doch die logische Überlegung zur Risikobereitschaft einer erkrankten, wohlhabenden und vernünftigen Person könnte auch den Richter zu folgendem Schluss gebracht haben:

«Der Beweis eines vertragswidrigen Verhaltens des R. Lindts ist mithin nicht erbracht (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S. 26)».


Abweichung: Gestützt auf das Urteil von 1927 ist die Behauptung «das glaubte ihm niemand» falsch. Selbst Jahre nach dem Tod von R. Lindt stufte der Oberrichter seine im Jahr 1906 unter Eid gemachte Aussage nämlich als glaubhaft ein. Vor diesem Hintergrund wirkt die gegenteilige Behauptung wie ein Plausibilisierungsversuch der anderen Fehlverhalten, die ihm im Buch zur Last gelegt werden.
Auf das Urteil des kantonalen Obergerichts aus dem Jahr 1927 folgte der Berufungsprozess vor dem Bundesgericht in Lausanne. Parallel dazu verhandelten die zwei Parteien über einen Vergleich, welcher im Jahr 1928 zustande kam. Wie üblich bei einer solchen aussergerichtlichen Einigung wurde auch im konkreten Fall eine Abgeltungsklausel vereinbart:

«Durch den Vergleich und seinen Vollzug sind die beiden Parteien in Bezug auf den beim Bundesgericht hängigen Prozess vollständig auseinandergesetzt (Vergleich 1928, Klägerin, S. 9).»


Der dritte Punkt, Abschnitt A «Vertragswidriges Verhalten des Herrn Rod. Lindt» im Berufungsschreiben der Klägerin vom Dezember 1927 müsste eigentlich auch unter diese Bestimmung fallen. Nun begibt man sich womöglich auf dünnes Eis, wenn eine vertraglich abgeschlossene Angelegenheit ausgegraben und ohne neue Erkenntnisse zum Nachteil einer involvierten Partei verwendet wird. Da es im Kern dieser Geschichte ums Schmelzen geht, erscheint die zitierte Behauptung umso mutiger.
Aufgrund des Konkurrenzverbots durften die ehemaligen Fabrikmitarbeiter nicht mehr im Schokoladenmarkt arbeiten.
Zitat: Im Februar 1909 verurteilte der Appellationshof des Kantons Bern die zwei Brüder und ihren Cousin zu hohen Konventionalstrafen, welche August und Walter vergeblich vor dem Bundesgericht anfochten. Rodolphe Lindt, der vor Gericht eidesstattlich erklärt hatte, dass er mit der «A & W Lindt» nichts zu tun habe, starb am 20. Februar 1909, wenige Tage nach der Urteilseröffnung, im Alter von erst dreiundfünfzig Jahren (Patriarchen, A. Capus, S. 26).

Gegendarstellung: Im Jahr 1909 verkündete das kantonale Obergericht tatsächlich drei Urteile. Keines davon betraf aber R. Lindt. A. und W. Lindt sowie eine dritte Person waren bis 1905 beim fusionierten Unternehmen angestellt. Bei der dritten Person handelte es sich um den Produktionsleiter des Berner Standortes. In den Arbeitsverträgen gab es jeweils eine Konkurrenzklausel. Nach der Kündigung hätten die drei ehemaligen Angestellten nicht wieder im Schokoladenbereich arbeiten dürfen. Mit der Gründung der A & W Lindt beziehungsweise dem Stellenantritt bei dieser jüngeren Schokoladenfirma wurden diese Konkurrenzverbote gebrochen. Daraufhin klagte die ehemalige Arbeitgeberin den vertraglich geregelten Schadenersatz ein. Das Berner Obergericht verurteilte die früheren Mitarbeiter zu Schadenersatzzahlungen. Gestützt auf das Urteil aus dem Jahr 1927 wurde W. Lindt jedoch vom Bundesgericht freigesprochen:

«Das in seinem Vertrag aufgenommene Konkurrenzverbot ist seit Einreichung der Klage letztinstanzlich durch Urteil des Bundesgerichtes vom 10.09.1909, weil zeitlich unbegrenzt, als ungültig erklärt worden (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S. 17).»


R. Lindt starb 7 Tage nach der Verurteilung seines jüngeren Bruders.

Abweichung: An dieser Stelle erreicht das Narrativ endgültig seinen Kipppunkt. 100 Jahre nach dem Tod von R. Lindt wird behauptet, dass er verurteilt worden sei. Gestützt auf den juristischen Sachverhalt ist das zweifellos eine Unwahrheit. Eine Verurteilung wirkt sich grundsätzlich auf die Reputation einer Person aus. Streitereien zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind in der Regel nicht relevant für die Öffentlichkeit. Der Reputationsverlust ist bei zivilrechtlichen Verurteilungen daher geringer als bei strafrechtlichen. Im Paradebeispiel rund um den Kauf des Gewerbehauses wurden jedoch strafrechtlich relevante Vorkommnisse angedeutet. Wenn nun das lesende Publikum die Verurteilung sogar mit dem Strafrecht in Verbindung bringen würde, wären die Folgen für die Beurteilung des Streits umso fataler.

Fest steht jedenfalls, dass man sich mit einer verurteilten Person weniger stark identifizieren möchte. Ein Pionier verliert zudem seine Vorbildfunktion, wenn er verurteilt wird. Aus «Patriarchen» wird häufig zitiert. Diese negative und teils unwahre Version der Geschichte über R. Lindt ist daher weitverbreitet. Damit ist ein möglicher Grund gefunden, warum der Lokalheld sogar bei der Berner Bevölkerung in Ungnade gefallen ist. Das würde auch erklären, wie die Erinnerungen an diese Schweizer Weltgeschichte auch in seiner Geburtsstadt verschwinden konnten. Aber auch der Weltruf der Berner Schmelzschokolade litt darunter. Jedoch hat die bisherige Einschätzung auf einer falschen Grundlage beruht. Deshalb muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass dieses kulinarische Kulturgut zu Unrecht vom Sockel verdrängt wurde.

Genauso falsch ist die Behauptung, dass W. Lindt das Urteil vergeblich vor dem Bundesgericht anfocht. Der Bundesrichter in Lausanne wertete eine zeitlich unbegrenzte Konkurrenzklausel nämlich als ungültig und annullierte das Urteil des Berner Obergerichts.

Dem Buch gegenüber muss wohlwollend davon ausgegangen werden, dass entweder fehlerhaft recherchiert wurde oder falsche Schlüsse gezogen wurden. Sollte bei der Quellenprüfung derselbe Fehler gefunden werden, könnte «Patriarchen» zumindest ein wenig entlastet werden.
Nachdem der Berner Schokoladenbetrieb gekauft und die Zuercher Fabrik gebaut worden war, gab es jeweils eine Schokoladenproduktion in der Matte und in Kilchberg.
An dieser Stelle im Urteil von 1909 weist das Gericht auf die Standortklausel im Kaufvertrag von 1899 hin. In der Situationsanalyse wurde diese Vertragsklausel erwähnt, um aufzeigen zu können, dass auch die Zürcher Seite den vertraglichen Verpflichtungen nicht vollumfänglich nachkam (Urteil gegen A. Lindt 1909, Obergericht, S. 10).
Zitat: Rodolphe Lindt stirbt am 20. Februar 1909 mit dreiundfünfzig Jahren, wenige Tage nach seiner Verurteilung wegen Übertretung der Konkurrenzklausel (Patriarchen, A. Capus, S. 28)

Abweichung: Dieser Satz stammt aus der Chronologie, welche in «Patriarchen» jeweils auf die Kurzgeschichten folgt. De facto handelt es sich um eine Wiederholung. Aus diesem Grund wird auf eine Gegendarstellung des Zitates verzichtet. Wenn eine Unwahrheit wiederholt wird, so bleibt sie falsch. In diesem Fall könnte von einem Wiederholungsfehler gesprochen werden. Im Buch lässt sich jedoch ein wiederkehrendes Muster erkennen. Ein Plausibilisierungsversuch der angeblichen Verurteilung kann somit nicht vollständig ausgeschlossen werden. Trotzdem sei hier die folgende Anmerkung erlaubt: Hat ein Schokoladenpionier eine saubere Weste, so hat er sein Lebenswerk verdient. Hätte er hingegen Dreck am Stecken, so wäre es eher unverdient.
Zitat: Der Berner Appellationshof verurteilt die Lindts wegen unlauteren Wettbewerbs zu Schadenersatzzahlungen von 800'000 Franken. Zudem muss auf jeder Tafel deutlich lesbar «Diese Schokolade ist nicht die Original-Lindt-Schokolade» stehen. Nach einem letzten Gang vor das Bundesgericht kapituliert die Familie Lindt. Sie übergibt die Firma an Lindt & Sprüngli und verpflichtet sich, für alle Zeiten auf die Fabrikation von Schokolade zu verzichten. Dafür muss sie nur noch 382 000 Franken Entschädigung zahlen. August Lindt stirbt wenige Tage nach Abschluss des Vergleichs am 27. Dezember 1927 (Patriarchen, A. Capus, S. 29).

Gegendarstellung: In der zitierten Stelle steht die chronologische Wiedergabe der Ereignisse im Fokus. Dabei geht es um den vierten Zivilprozess, welcher auf die arbeitsrechtliche Verurteilung von A. Lindt und den Tod von R. Lindt folgte. Das fusionierte Unternehmen klagte gegen die A & W Lindt wegen unlauteren Wettbewerbs und machte eine Schadenersatzforderung von 4 Mio. geltend. Konkret wurde den zwei Firmeninhabern vorgeworfen, das Lindt-System kopiert zu haben. Die Klägerin bezeichnet damit die Verwendung der Kenntnisse, welche A. und W. Lindt während des Arbeitsverhältnisses mit dem geschädigten Unternehmen erworben hatten und welche ihnen die Nachahmung des Produktionsverfahrens, der Verpackung und der Aufmachung in Farbe und Bezeichnung ermöglicht hatte (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S. 30).

Im vierten Prozess versuchte die Zürcher Seite einen weiteren Schaden geltend zu machen, der aus einem vertragswidrigen Verhalten von R. Lindt während seiner Zeit im Verwaltungsrat resultiert haben soll. Durch seinen Tod im Jahr 1909 soll die Schadenersatzpflicht auf dessen Bruder als Universalerbe übergegangen sein. Der Beweis einer Vertragsverletzung des verstorbenen R. Lindt war für das Obergericht indes nicht erbracht (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S. 26).

Am 7. Juli 1927 verurteilte das Berner Obergericht die beiden Inhaber der A & W Lindt wegen unlauterem Wettbewerb und auferlegte ihnen eine Zahlung von 800'000.- als Schadenersatz. Für die Einordnung dieser Summe kann die Bilanzsumme beigezogen werden: Im selben Jahr wurde die Bilanz der A & W Lindt von der Zürcher Seite mit 691'720.- bewertet (Vergleich 1928, Klägerin, S. 3). Als Kollektivgesellschafter hafteten A. und W. Lindt zudem solidarisch mit ihrem Privatvermögen für den fälligen Schadenersatz.

Auf Antrag der Klägerin musste die unterlegene Partei ausserdem auf all ihren Produkten, Preislisten, Inseraten und Mitteilungen an das Publikum sowie auf ihrem Geschäftspapier, Plakaten, etc. in der für die betreffende Sprache die deutlich erkennbare Aufschrift anbringen:

Diese Chocolade ist nicht die Original Lindt Chocolade;


Ce Chocolat n’est pas le Lindt chocolat;


Not connected with the original Lindt chocolate (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S. 53).


Durch diesen Urteilsspruch wäre die A & W Lindt von der Schlacht- direkt auf der Freibank gelandet. Die Verurteilten hatten also keine andere Wahl, als das Urteil ans Bundesgericht weiterzuziehen. Da die Klägerin einen Schaden in der Höhe von 4 Mio. geltend gemacht hatte, ging auch sie in Berufung. Nun richtet sich das Augenmerk dieser Gegendarstellung auf die korrekte Chronologie. Nur so werden die Ereignisse sichtbar, welche sich um Weihnachten des Jahres 1927 überschlugen:

2. Dezember 1927: Der Bundesrichter bat die Anwälte beider Seiten, die Plädoyers bis zum 24. Dezember schriftlich einzureichen (Schreiben 1927, Bundesgericht, S. 2).

24. Dezember 1927: Frist zur Einreichung der Plädoyers beim Bundesgericht in Lausanne.

27. Dezember 1927: Der Tod von A. Lindt wurde bekannt gegeben. Zu diesem Zeitpunkt waren die Verhandlungen noch in vollem Gange.

6. März 1928: Die Streitparteien aus Zürich und Bern schlossen einen aussergerichtlichen Vergleich ab, welcher parallel zum Berufungsprozess verhandelt wurde. Für den verstorbenen A. Lindt war sein Sohn A. Lindt Junior nachgerückt. Die Einigung erfolgte also nach dem Todesfall. Somit fiel die Unterzeichnung in die Trauerzeit der Familienangehörigen. Als Schadenersatz ging die A & W Lindt im Umfang der Bewertung von 602'000.- ins Eigentum der Klägerin über. Darüber hinaus musste die Berner Seite eine Schadenersatzzahlung von 150'000.- leisten. W. Lindt und sein Sohn P. Lindt sowie A. Lindt Junior verpflichteten sich zudem, auf dem Gebiet der Schokoladenfabrikation inskünftig nicht mehr tätig zu sein (Vergleich 1928, Klägerin, S. 10).

Ausserdem wurde vermerkt, dass durch den Vergleich und seinen Vollzug die Parteien in Bezug auf den beim Bundesgericht hängigen Prozess vollständig miteinander auseinandergesetzt sind (Vergleich, Klägerin, S. 9). Mit 100'000.- wurde die Konventionalstrafe dieses Mal aber um einiges höher angesetzt als in den Arbeitsverträgen um 1900.

1. April 1928: Die Zürcher Seite liquidierte die A & W Lindt. Die Übertragung des Eigentums am Unternehmen war Teil der Schadenersatzzahlung gewesen. Daraus folgt, dass die neuen Inhaber sich für die Liquidation entschieden hatten. Bereits die Inhaberschaft war nicht geplant gewesen. Folglich waren auch die Einnahmen aus der Liquidation ausserplanmässig beziehungsweise ausserordentlich.

1931 starb L. Lindt, die verwitwete Mutter von A. Lindt Junior. Der Tod von W. Lindt fiel ins selbe Jahr.

1932 schloss das fusionierte Unternehmen auch noch die Produktion am Standort der ehemaligen Rod. Lindt Fils. Kurz darauf zogen sich die Zürcher endgültig aus Bern zurück. Dies bedeutete sogleich auch das Ende des Berner Handwerkes, welches die Matte seit 1879 geprägt und die Schokoladenentwicklung weltweit revolutioniert hatte.
Die Schadenersatzzahlung erfolgte grösstenteils in Form von Sachwerten. Dadurch ging die Inhaberschaft der A & W Lindt an das fusionierte Unternehmen über. Bei der Liquidation lag die Preisgestaltung folglich nicht mehr in Bern. Der Liquidationserlös floss zudem in vollem Umfang an den Zürichsee, wo er als ausserordentlicher Ertrag verbucht wurde.
Abweichung: An dieser Stelle befindet sich der zweite grobe Fehler. Im Buch wird die Einigung nämlich zeitlich vor dem Tod von A. Lindt eingeordnet. Das tragische Ereignis verkommt dadurch zur Randnotiz. Bei der Lektüre ist somit nicht ersichtlich, dass der Verhandlungsabschluss in die Trauerzeit der Familie fiel.

Im Verhältnis zur Bilanzbewertung war die Höhe des Schadenersatzes existenzbedrohend für die A & W Lindt. Im Berufungsprozess stand zudem wieder eine Forderung von 4 Mio. im Raum. Ausserdem mussten die beiden Kollektivgesellschafter solidarisch mit ihrem Privatvermögen aufkommen. Der mentale Druck, welcher auf den Verurteilten lastete, muss somit enorm gewesen sein. A. Lindt starb drei Tage nach Ablauf der Frist des Bundesgerichtes. Angesichts der hohen Streitsumme ist bei diesem Todesfall eine gewisse Vorsicht geboten.

In dieser Sache wird von einem Historiker mehr Aufmerksamkeit verlangt. Da im Text eine ironische Note enthalten ist, hätte man von einem Autor aber definitiv mehr Fingerspitzengefühl erwarten dürfen.

Wenn der Tod von A. Lindt nur am Rande erwähnt wird, hat das Ereignis keinen Einfluss auf die Gesamtbeurteilung. Auf diese Weise verharmlost das Narrativ die Situation und ermöglicht eine ironische Interpretation der Geschichte. Durch die korrekte Chronologie wird die Familientragödie aber für jedermann erkennbar. Bei der Quellenprüfung wird sich zudem herausstellen, dass ein Teil der Texte im Jahr 1995 publiziert wurden. Im selben Jahr wurde A. Lindt Junior 90 Jahre alt. Mit dem Tod seines Vaters und kurze Zeit später seiner Mutter hinterliess die Causa A & W Lindt vor allem in seinem Leben tiefe Narben. Aus dieser Perspektive verliert das Narrativ jegliche Ironie.

Die Formulierung «Familie Lindt» ist zu weit gefasst. Denn lediglich W. Lindt, sein Sohn und der Sohn des verstorbenen A. Lindt verpflichteten sich, jegliche Aktivität im Schokoladenmarkt zu unterlassen. Diese zu allgemeine Wortwahl wird im Kapitel über die Quellen unter «Pioniere der Wirtschaft und Technik» genauer analysiert.
Sollte nun behauptet werden, dass auch Berner von der Liquidation der A & W Lindt profitiert haben sollen, würde dies von der Verantwortlichkeit ablenken. Diese lag eindeutig bei der Verkäuferin. Erstens wurde in Kilchberg entschieden, die Fabrik zu schliessen. Zweitens erfolgte dort die Preisgestaltung und drittens floss der Liquidationserlös zu hundert Prozent an den Zürichsee.
Der Richter erteilte dem verstorbenen Schokoladenpionier und ehemaligen Verwaltungsrat eine Decharge.
Abgebildet ist die Schlussfolgerung des Richters zum Vorwurf eines kontraktlichen Verschuldens von R. Lindt als Verwaltungsrat des verschmolzenen Unternehmens zwischen 1899 und 1905 (Urteil gegen A. und W. Lindt von 1927, Obergericht, S. 26).
Streit

Fazit

R. Lindt war weder in die A & W Lindt eingebunden noch wurde er verurteilt. Beim Rückzug aus dem Arbeitsalltag im Jahr 1905 sollte daher ein Schlussstricht gezogen werden. Damit ist seine Lebensgeschichte nicht nur wirtschaftlich bedeutend, sondern auch menschlich überragend. Ihm kann einzig vorgeworfen werden, dass er die Absichten der Käufer seines Unternehmens falsch einschätzte, weil er sich wohl vom hohen Verkaufspreis blenden liess. Die A & W Lindt und die Verurteilungen haben nichts mit R. Lindt oder der Berner Schmelzschokolade zu tun.

In der Geschäftswelt sind Streitigkeiten zwischen Divisionen, Filialen, Abteilungen usw. keine Seltenheit. Um Interessenkonflikte zu vermeiden wäre jedoch eine klare und bindende Standortregelung erforderlich gewesen. Dem Urteil von 1909 zufolge liess R. Lindt im Kaufvertrag von 1899 eine Standortklausel integrieren. Diese wurden in den Statuten jedoch nicht aufgenommen. Diese Vertragsklausel hätte den Erhalt der Berner Arbeitsplätze auch nach dem Verkauf sichern sollen. Die Situationsanalyse hat einen möglichen Grund gefunden, warum diese Verkaufsbedingung unerfüllt blieb. Demnach hätte die Schokoladenmühle modernisiert werden müssen, um mit der neuen Fabrik in Kilchberg mithalten zu können. Die Baukosten am Zürichsee hatten zuvor jedoch das Budget überschritten und so könnte das Geld für die Modernisierung gefehlt haben. Unter diesen Umständen hätte die Schliessung der Berner Mühle aus betriebswirtschaftlicher Sicht einen Sinn ergeben. Durch die Konzentration auf einen einzigen Standort hätten sich die Gesamtkosten reduziert. Zudem hätte die Auslastung der neuen Schokoladenfabrik durch Berner Aufträge erhöht werden können. Dadurch wäre der finanzielle Spielraum wieder grösser geworden. Für die Zürcher Kapitalgeber wäre das Risiko somit gesunken. Tiefere Kosten hätten für die Aktionäre schliesslich eine höhere Dividende bedeutet. Unter diesen Umständen könnte das Zürcher Interesse am Erhalt der maroden Schokoladenmühle sogar gering gewesen sein.

Die aus der Situationsanalyse gewonnenen Erkenntnisse könnten jetzt in Zweifel gezogen werden. Das würde jedoch nichts an der Feststellung im Urteil von 1909 ändern:

«Richtig ist nun allerdings, dass sub. Ziff. 4 des Kaufvertrages vom 1./16. März 1899 die käuferische Aktiengesellschaft sich zu einer Statutenänderung verpflichtete, wonach u.a. dort bestimmt werden sollte, dass die Geschäfte in Zürich, bezw. Kilchberg, und dasjenige in Bern beide selbständig, jedoch stets in gegenseitigem Einverständnis arbeiten; allein das Postulat der selbständigen Leitung der beiden Fabriken hat dann in den Statuten der Klägerin doch keinen Ausdruck gefunden (Urteil gegen A. Lindt 1909, Obergericht, S. 10).»


Wenn von Vertragsbruch die Rede ist und diese nur einer Streitpartei vorgeworfen wird, so biegt man sich die Wahrheit zu Ungunsten der Berner Seite zurecht.

In der eindimensionalen Schilderung der Streitigkeit setzt das Narrativ seinen Feldzug fort. Dabei macht es aus David einen Goliath oder deutet strafrechtlich relevante Verstösse an. Damit ergänzt es die negativen Charakterzüge aus der Wochenendkategorie. Mit einem undankbaren, machtgierigen, streitsüchtigen, hinterlistigen, verräterischen und skrupellosen Partner ist eine Zusammenarbeit in jedem Fall unmöglich. Im Zusammenhang mit der Trennung zwischen der Berner und Zürcher Seite macht diese einseitige Darstellung nun absolut Sinn. Dadurch scheint tatsächlich nur die Berner Seite für den Streit verantwortlich gewesen zu sein. Damit versucht das Narrativ, die Sündenbockfrage zu beeinflussen.

Die unwahre Behauptung einer Verurteilung wirkt unter diesem Aspekt wie ein Plausibilisierungsversuch der angeblichen Fehlverhalten von R. Lindt. Die falsche Einordnung des Todes von A. Lindt ist ein weiterer grober Fehler. Im Buch wird dieses Ereignis ans Ende gesetzt. Dadurch wird es nur als Randnotiz wahrgenommen. Tatsächlich starb er aber noch während der Verhandlungen. Die Kapitulation der Berner Seite erfolgt somit während der Trauerzeit der hinterbliebenen Personen. Indem das tragische Ende verharmlost wird, lässt das Narrativ eine ironische Interpretation des restlichen Textes zu.

In der Regel wird dem Gegner kein gutes Haar gelassen. Da es in dieser Geschichte eine Gewinner- und eine Verliererseite gab, kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Narrativ auf der subjektiven Wahrnehmung der Kontrahenten von R. Lindt basiert. Um eine ganzheitliche Beurteilung vornehmen zu können, müssen daher auch noch die im Buch genannten Quellen geprüft werden.

Bis hierher kann die Gegendarstellung aber bereits nachweisen, dass die Kratzer am Weltruf der Berner Schmelzschokolade zu Unrecht entstanden sind. Der Zeitpunkt der beiden Todesfälle war vor allem für die Berner Seite kritisch. Durch diese Schicksalsschläge wurde die Verliererseite stark geschwächt. Dadurch könnte sich die zartbittere Füllung des Überraschungseis nun bemerkbar machen. Dank dieser Informationen kann nun jeder für sich entscheiden, ob die Legende eines Zufallswochenendes ironischer Natur ist oder nicht.

In der Retrospektive legte J. Sprüngli mit dem Kauf der Berner Rod. Lindt Fils den Grundstein für den heutigen Erfolg des Zürcher Unternehmens. Anfangs trug er wohl den Stempel eines Fils-à-Papa, weil er in die grossen Fussstapfen seines Vaters R. Sprüngli treten musste. Aus diesem Grund könnten die Kapitalgeber an seiner kühnen Unternehmensstrategie gezweifelt haben. Aus heutiger Sicht stellt sich ein mögliches Misstrauen jedoch als unbegründet heraus. Es könnte daher sein Schicksal gewesen sein, dass sein visionäres Handeln bis zu seinem Tod im Jahr 1926 unerkannt blieb und sein Name noch heute im Schatten seines Vaters steht.

Der Großteil des Schadenersatzes wurde in Form eines Sachwertes beglichen. Dadurch ging das Eigentum an der A & W Lindt an das fusionierte Unternehmen über. Gleich im Anschluss folgte die Liquidation der A & W Lindt. Kurz darauf ereilte auch der Schokoladenmühle mit Weltruf dasselbe Schicksal. Unter diesen Umständen könnte die zweite Schokoladenfabrik tatsächlich ein Rettungsversuch gewesen sein, um die Berner Arbeitsplätze zu erhalten. Im Mattequartier hätte sich dadurch das vorzeitige Ende des Schokoladenhandwerkes um mindestens 25 Jahre verzögert. Der Bruder sowie Cousin hätten aber hinter diesem Plan gestanden und nicht R. Lindt.
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